Natürlich ist es nachvollziehbar, dass die Ukraine ständig auf weitere Waffenlieferungen aus Deutschland drängt. Natürlich ist es verständlich, dass die Führung des Landes moralischen Druck auf die Bundesregierung auszuüben versucht. Sie sollte dabei allerdings den politischen Anstand bewahren.
Präsident Wolodymyr Selenskyj hat am Montag eine Grenze überschritten. Sein Vorwurf an Olaf Scholz und die Bundesregierung, sie stünden nicht eindeutig hinter der Ukraine und würden einen Spagat zwischen Kiew und Moskau versuchen, ist unfair, ja infam. Niemand aus der Koalition hegt auch nur eine Spur von Sympathie für den Kriegsverbrecher Wladimir Putin oder übt sich ihm gegenüber in Nachsicht. Scholz und die Ampel haben seit dem russischen Überfall klar Position bezogen.
Auch an den wiederholten Telefonaten des Kanzlers und des französischen Präsidenten mit dem Kremlherrscher gibt es nichts zu beanstanden. Jeder Versuch, auf Putin mäßigend einzuwirken und Chancen für einen Waffenstillstand auszuloten, ist richtig, selbst wenn die Erfolgsaussichten solcher Bemühungen verschwindend gering sind.
Politisches Kalkül
Falsches Spiel gleichfalls in der Debatte um die Lieferung von schweren Waffen. Immer öfter wird in ihr mit Vereinfachungen und Unterstellungen gearbeitet. Ja, Deutschland hat bisher noch keines der versprochenen Waffensysteme überstellt. Aber das liegt nicht, wie gerne behauptet, am fehlenden Willen der Bundesregierung. Ausschlaggebend sind banale Gründe. Beispiel Panzerhaubitze 2000: Als Mitte Mai in Idar-Oberstein die Ausbildung ukrainischer Soldaten an den hochmodernen Artilleriegeschützen begann, betonten Fachleute, die Schulung dauere mindestens sechs Wochen. Würden die Haubitzen vor Ende Juni geliefert, seien sie militärisch wenig effizient und ihre Besatzungen schnell Kanonenfutter. Trotzdem versuchen in den vergangenen Tagen manche den Eindruck zu erwecken, als halte die Ampel dieses Waffensystem bewusst zurück. Ähnlich sieht es in weiteren Fällen aus.
Offenbar steckt hinter den ständigen Klagen und Beschwerden das Kalkül: Je heftiger die Bundesregierung durch die falsche Erzählung von einer mangelnden Unterstützung der Ukraine auch medial an den Pranger gestellt wird, desto eher ist sie zu weiteren Waffenzusagen bereit. Was die ukrainische Regierung haben will ist klar: Panzer und Schützenpanzer westlicher Bauart. Doch bisher hat kein Nato-Land solche Waffen geliefert. Deutschland sollte da nicht vorpreschen und sich in eine militärische Vorreiterrolle manövrieren lassen – allein schon aus historischen Gründen. Das muss Scholz auch bei seinem Besuch in Kiew deutlich machen.
Immer öfter fallen dem Kanzler profilierungssüchtige Personen aus den Regierungsparteien und Teile der Opposition in den Rücken. So behauptete vor Tagen der führende CSU-Europapolitiker Manfred Weber: „Wenn Kiew fällt, wird die Welt glauben, Deutschland sei schuld.“ Ein dreister, ein schäbiger Satz. Da bastelt tatsächlich bereits jemand an einer neuen Dolchstoßlegende – aus billigem, parteitaktischem Kalkül.
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